Anders
»Manche Dinge sind anders als sie scheinen«, murmelte der Vampir, bleckte seine schief sitzenden Zähne und schwenkte das Glas, in dem eine rote Flüssigkeit schwappte. Er leerte es in einem Zug.
Er saß in einer abgedunkelten Bar, während draußen bereits der Morgen graute. Hinter den Gardinen des einzigen Fensters eilten Passanten vorbei. Der Straßenlärm drang kaum merklich in das Lokal. Das Leben in der Großstadt erwachte schon früh, denn viele wollten ihre Vorgesetzten nicht damit verärgern, dass sie zu spät kamen. Der Vampir bewunderte manchmal diese emsige Geschäftigkeit, die die Menschen an den Tag legten. Wie die Männer und Frauen tagein, tagaus so vielen verschiedenen Tätigkeiten nachgingen. Er konnte sich das gar nicht vorstellen!
Der Vampir lebte in einem dunklen Hinterzimmer der Bar, das ihm der Eigentümer zu einem Spottpreis vermietet hatte. Dafür musste er ab und an aushelfen, wenn der Laden einmal gut besucht war. Was eigentlich noch nie vorgekommen ist. So konnte er in seinem Zimmer, das er manchmal liebevoll »die Gruft« nannte, ungestört seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen: Sich die Nächte mit unzähligen Code-Zeilen um die Ohren schlagen, um die Software seiner Auftraggeber nach Fehlern zu durchsuchen.
Jemand öffnete die Tür und der Vampir schloss geblendet seine Augen. Tageslicht war er einfach nicht mehr gewohnt.
»Tür zu!«, raunte er, als der letzte Gast torkelnd den Laden verließ. Der Barmann schaute auf, unterbrach kurz seine Arbeit und warf das Geschirrtuch gekonnt über seine Schulter.
»Du bist ein Nerd«, sagte er zum Vampir. »Tagelang schließt Du Dich in Deinem Zimmer ein und kommst nur raus, um etwas zu trinken. Wann hast Du denn eigentlich zum letzten Mal in den Spiegel geschaut?«
»Das versuche ich zu vermeiden«, meinte sein Gegenüber.
»Wahrscheinlich wird der Spiegel blind, wenn er Deine Augenringe sieht«, witzelte der Barmann. »Wenn Du so weitermachst, wird wirklich jede Frau einen großen Bogen um Dich machen.«
Der Vampir senkte den Blick. Zu gern hätte er sich seinen Gelüsten hingegeben, doch in einem hatte der Mann hinterm Tresen recht: Über das Vorspiel kam er schon seit Jahren nicht mehr hinaus. Er musste seinen Bekanntschaften lediglich versuchen, die Bluse aufzuknöpfen und ihnen einen Kuss auf den Hals zu hauchen, und schon liefen sie schreiend weg. Mit Frauen hatte er einfach kein Glück!
»Und wie dürr Du aussiehst!«, fuhr der Barmann fort. »Du solltest mehr essen! Ich könnte Dir eine halbe Pizza Napoletana anbieten, habe ich in meiner Pause nicht mehr geschafft.«
Der Vampir schüttelte nachdenklich den Kopf. »Du weißt doch, dass ich eine Knoblauch-Allergie habe«, sagte er. »Aber noch etwas zu trinken nehme gern, bevor ich mich in meine Gruft zum Schlafen begebe.«
Der Barmann seufzte und schenkte ihm nach. So konnte er ihm wahrlich nicht helfen. Dann wandte er sich um und putzte weiter seine Gläser.
Gedankenverloren saß der Vampir am Tresen, hob sein Glas und trank genüsslich seinen Rotwein.