Die unendliche Kurzgeschichte

»Bist Du bereit?« Der alte Mann schlug das Buch auf und sah seinen Enkel fragend an. Neben ihm knisterte es im Kamin, der ihm gerade genügend Licht spendete, dass seine müden Augen die verzierte Schrift entziffern konnten. Sein alter Sessel knarzte leise, als er sich zu seinem eigen Fleisch und Blut herunterbeugte.

Der Junge saß auf dem flauschigen Teppich, sah zu seinem Großvater hoch und nickte. Sonst war er nie so still, doch jedes Mal, wenn er bei ihm war, fühlte er eine heimelige Atmosphäre. Besonders jetzt.

Sein Opa lehnte sich zurück, räusperte sich und begann:

Es war einmal ein kleiner Junge, der hatte eine großartige Familie. Jedes Mal, wenn er einen Wunsch hatte, musste er nur seine Mutter, seinen Vater oder seinen Bruder ansehen und schon wurde er ihm erfüllt. Doch als er in die Schule kam, war es nicht mehr so einfach, alle seine Träume sofort umzusetzen. Plötzlich konnte er nicht mehr jeden Willen durchsetzen, den er sich in den Kopf gesetzt hat.

Seine Mitschüler hänselten ihn dafür, dass er es versuchte. Er befahl ihnen, seine Hausaufgaben zu machen, doch sie hatten ihren eigenen Kopf und wollten lieber auf dem Schulhof Fußball spielen. Er verlangte von ihnen, seine Freunde zu sein, aber irgendwie fanden sie ihn alle nur etwas seltsam.

Nur an einem einzigen Ort konnte er alle seine liebsten Freunde besuchen: Unten im Erdgeschoss der Schule hinter einer ganz einsamen Tür versteckte sich die Bibliothek. Hier kam selten jemand her. Seine Freunde waren die Bücher, denn der kleine Junge liebte Es, zu lesen. So konnte er alle Abenteuer erleben, die er sich sonst nicht erfüllen konnte. Er konnte auf Drachen reiten, einsame Inseln besuchen oder mächtige Zauberer besiegen. Er konnte selbst ein treuer Ritter, ein reicher König oder ein einsamer Wanderer sein.

So saß er auch heute in der ruhigen Bibliothek und suchte gerade nach seinem nächsten Buch. Ganz hinten in dem verstaubtesten Regal, in dem noch nie ein Kind nach einem Buch gesucht hatte, fand er es dann endlich. Es war in ein altes Tuch eingewickelt und als er es entfernte, blinzelte den Jungen eine große goldene, auf der Seite liegende Acht an. Er setzte sich damit an den nächstbesten Tisch, strich sanft über den Einband und klappte das Buch auf. Sein Mund formte die ersten Worte:

Es war einmal ein alter Mann. Er hatte nur noch sich, denn seine beiden Töchter und ihre Kinder waren weit weggezogen und besuchten ihn nicht mehr. Er war ein Fischer und liebte die Weite des Ozeans. Im Grunde hatte er also nur noch sich und das Meer.

Jeden Tag stand er noch vor dem Morgengrauen auf, bereitete sein kleines Boot vor und fuhr damit weit auf das Meer hinaus, um einige Fische zu fangen. Manchmal fing er einen großen Fisch, aber an den meisten Tagen ging er leer aus oder angelte Dinge aus dem Meer, die die Menschen auf den vorbei fahrenden Schiffen achtlos weggeworfen hatten. Manche Dinge konnte er selbst sehr gut gebrauchen. Er trug bereits Schuhe vom Meeresgrund, bewahrte seine Milch in Flaschen auf, die er im Ozean fand. Einmal hatte er sogar einen alten Kompass gefunden, der ihm nun in stürmischen Zeiten gute Dienste leistete.

Auch heute fuhr er wieder über das unendlich große Wasser der aufgehenden Sonne entgegen. Der alte Mann warf seine Angel aus und wartete geduldig darauf, dass ein Fisch anbiss. Erstaunlicherweise musste er nicht lange warten, bis seine Angelrute zuckte. Langsam holte er sie ein. Das war gar nicht so einfach, denn er musste immer wieder etwas Schnur nachlassen, damit sie bei zu großen Bewegungen des Fisches nicht riss. Doch bald hatte er seinen Fang an Land gezogen.

Erstaunt betrachtete er ein großes, schweres Buch. Sein Angelhaken hatte sich in einer Tüte verfangen, die das Buch vor Nässe schützte.

»Unglaublich«, dachte er. »Was Menschen heutzutage alles wegwarfen.«

Trotz seines ungewöhnlichen Fangs war er nicht betrübt, dass er heute wieder keinen Fisch geangelt hatte. Ein Buch konnte er gut gebrauchen, wenn er darauf wartete, dass seine nächste Mahlzeit anbiss.

Als er wieder am Strand ankam und in seine karge Hütte ging, setzte sich der alte Mann auf seinen Schemel, packte das Buch aus und betrachtete den Einband. Auf dem braunen alten Leder prangte eine große güldene Acht, die seltsamerweise auf der Seite lag. Er schlug seine neue Lektüre auf und begann zu lesen:

»Bist Du bereit?« Der alte Mann schlug das Buch auf und sah seinen Enkel fragend an. Neben im knisterte es im Kamin, der ihm gerade genügend Licht spendete, dass seine müden Augen die verzierte Schrift entziffern konnten…

Erschrocken sahen sich Enkel und Großvater an. Hatten sie gerade ihre eigene Geschichte gelesen? Der Junge nahm seinem Verwandten das Buch aus der Hand und schlug es zu. Auf dem Einband leuchtete eine goldene, auf der Seite liegende Acht.